“Du findest unsere Geschichten kindlich, nicht wahr? Primitive Geschichten eines primitiven Volkes, das die Welt nicht versteht, nicht wahr?” Die Schamanin legte den Kopf schief. Ihr Blick drang in seine Augen ein und wühlte sich durch sein Gehirn bis an seinen Hinterkopf. Durchdringend, dachte er.
“Äh,… nein. So etwas würde ich niemals sagen.” Er stolperte nicht. Er konnte nicht stolpern, denn er saß schließlich auf dem Boden. Aber ihre Untieraugen ließen seine Seele stolpern. Seine Seele? So etwas gibt es doch gar nicht! Wieso dachte er so etwas Unsinniges? Als wäre er ein Schüler im ersten Jahr.
“Doch, das tust du. Wir kennen euch und euren Wahnsinn. Ihr glaubt an das Märchen der Rationalität, der Messbarkeit und an das Märchen von den Märchen. Wir kennen euch von früher, denn früher waren wir genauso unreif wir ihr. Doch wenn du in einer Welt lebst, die dich jagd, töten und fressen will — nicht weil sie dich hasst, sondern weil sie dich als einen Teil von sich liebt — wirst du erwachsen und beginnst zu verstehen. Wahrheit ist das, was Leben bringt. Lüge ist das, was tötet. Unsere Geschichten sind Erinnerungen, so unendlich alt, dass sie von Beginn der Zeit erzählt wurden, als es noch niemanden gab, der sie erzählen konnte. Unsere Geschichten sind die Wahrheit, die sich selbst entfaltet. Du hast gerade die Geschichte eines großen Jägers gehört. Unsere Kinder hören sie, verstehen sie, trinken ihre Wahrheit und werden leben. Sie werden große Jäger. Du dagegen hast dein Leben damit verbracht, Bücher zu lesen, die von Menschen geschrieben wurden, die Bücher lesen. So bleibst du auf ewig ein Kind.”
(Ein Auszug aus einem Prosawerk von mir)