Eine Frage, die in meinem echten Leben für einige Bewegung gesorgt hat. Das kann vielleicht daran liegen, dass ich bereit bin mich überhaupt einer solchen Frage zu stellen und nicht intuitiv jeden, der die Verneinung überhaupt als Möglichkeit in Betracht zieht, mit meinem sozial konditionierten Gutmenschentum konfrontiere.
Offenbar zeichnet einen Menschen eine Behinderung in einer besonderen Weise aus. Sonst wäre die Erwähnung genauso wenig relevant wie die Kennzeichnung von Menschen anhand ihrer Haarfarbe. Dass ein Mensch eine Behinderung hat, ist verbunden mit einer bestimmten rechtlichen Situation und einer besonderen sozialen Regelung im Umgang mit diesen.
In Bethel/Bielefeld wird oft darauf beharrt, dass man den Begriff “Menschen mit Behinderung” benutzt und “Behinderte” nicht. So ähnlich wie bei Feministen, die radikale Genderung von Texten verlangen und gegen das generische Maskulinum in den Krieg ziehen, steckt dahinter, dass die Begriffe die Realität formen. Das will ich erstmal als gegeben hinnehmen, denn der Punkt, auf den es mir hier ankommt, ist ein anderer:
Die Begründung bei dieser Sprachnorm ist, dass der Begriff “Behinderter” entmenschlichend ist und dass sei unmenschlich.
Das halte ich für grundsätzlich falsch, weil die Voraussetzungen für eine solche Debatte falsch angefasst werden. Menschen stehen gewisse Rechte zu. Diese sollen Behinderte wahrnehmen dürfen. Wenn diese dazu nicht in der Lage sind, dann ist der Rest der Gesellschaft da um ihnen dies zu ermöglichen.
Der eigentliche Grund hinter dieser Begriffsnorm scheint also zu sein, dass man einer intuitiven Entrechtung und Abgrenzung von Behinderten vermeiden will. Sie sollen alle Möglichkeiten zur Verfügung haben wie Nichtbehinderte. Da frage ich mich, wo liegt da der Begriff der Behinderung? Der Begriff selbst beinhaltet doch, dass gerade diese Möglichkeiten eingeschränkt sind. Der Querschnittgelähmte kann nicht laufen und der Begriff geistige Behinderung meint nichts anderes, dass der Betroffene dumm ist.
Mit dem Status “Mensch” gehen natürlich nicht nur Rechte sondern auch Pflichten einher. Diese Pflichten müssen natürlich auch eingehalten werden und wenn derjenige diese nicht einhalten kann, sorgt die Gesellschaft dafür. Behinderte nehmen ihre Schulpflicht in Sonderschulen wahr. Doch manche sind geistig so eingeschränkt, dass die Schulaktivitäten nichts anderes als Beschäftigungsmaßnahmen sind. Als ich einen schwer- und mehrfachbehinderten Autisten für einige Zeit in der Schule betreute (Integration der Fachbegriff; ich hieß Integrationshelfer), bestand ein Teil des schulischen (!) Programms darin, dass wir kegelten. Da mein Schützling jedoch kognitiv nicht in der Lage war einen korrekten Zusammenhang zwischen Kugel und Kegel herzustellen oder wenigstens zu gleichgültig, “half” ich ihm dabei. In solchen Fällen wurde folgender Maßen vorgegangen:
Der Behinderte wurde auf einen Stuhl vor die Bahn gesetzt. Dann bekam er eine Schiene auf die Schulter, die auf die Kegelbahn ausgerichtet war. Oben drauf konnte man eine Kugel platzieren, die man von einem Podest herunterschubsen konnte, so dass sie die Schiene herunterrollte. Mein Schützling saß also da, bekam die Schiene aufgesetzt und hatte eine Kegelkugel vor dem Gesicht. Nach kurzer Zeit wurde sie ihm lästig und er schubste sie. Dann haben wir zusammen herumgesessen und darauf gewartet, dass wir wieder dran waren, während ich andere, agilere, Behinderte davon abgehalten habe, meinen Schützling zu ärgern oder ihm Kegelkugeln ins Gesicht zu werfen.
Immerhin hat er sein Recht auf Schulpflicht wahrgenommen, oder? Das war nur ein Beispiel der Lebenszeitverschwendung von ihm (ich wurde immerhin bezahlt). Wenn ich ihn in der Freizeitbetreuung hatte, gingen wir oft auf Spielplätze, wo er schaukelte oder Blätter eines Gebüschs pflückte und zerriss Es war ihm eine Freude und der genoss es, dass ich ihm einmal in der Stunde etwas Aufmerksamkeit schenkte, obwohl es ihm in vielen Fällen auch egal war.
Ich will das nicht einmal als rhetorische Frage formulieren, weil es einfach zu absurd ist. Behinderte sind keine vollwertigen Menschen. Das heißt nicht, dass man ihnen ihr Leidens- und Glücksempfinden abspricht. Aber sie werden in Formen gepresst, deren Sinn man nicht einmal für Nichtbehinderte so unproblematisch sind (Schulkritik, Kapitalismuskritik usw.). Unter dem Begriff “Teilhabe” werden Wesen ohne intuitiv menschliches Antlitz und ohne Handlungsfähigkeit in Räume geschoben, wo andere Behinderte Tätigkeiten erlernen, für die Maschinen speziell nach ihren Bedürfnissen hergestellt werden. anstatt die Fördergelder für eine Person zu verwenden, die sie an der frischen Luft spazieren fährt oder Musik vorspielt.
Ein Mensch zu sein scheint ein erhabener Status zu sein. Einem Behinderten einen Teil seiner Menschlichkeit abzusprechen wird zur Herabsetzung. Ich sehe darin nur die Arroganz des Menschen, der sich selbst für etwas Besonderes hält. Ich habe gesehen, wie “Menschen” für den Begriff “Mensch mit Behinderung” mit äußerster Aggressivität gestritten haben, während sie sich gleichzeitig gefragt haben, wie ich meinen Schützling, welcher hochaggressiv und gewalttätig war, so ruhig behandeln konnte. Warum ich nie sauer auf ihn war. Die Antwort ist simpel wie unmenschlich. Ich habe in ihm keinen vollwertigen Menschen gesehen. Dieser wäre verantwortlich für sein Handeln gewesen. Mein Schützling war für mich nicht vollwertig. Seine Aggressionen waren Ausdruck seiner Unfähigkeit sich mitzuteilen und seiner Dumpfheit, weil sein Autismus, seine Epilepsie und seine geistige Behinderung seinen Geist eingeschrumpft haben. Ich war sein Betreuer und meine Aufgabe war es, ihn und andere vor Schaden zu bewahren und sein Glück und seine Fähigkeiten zu befördern. Diese Pflicht habe wahrgenommen und nach bestem Gewissen erfüllt. Ihn als vollwertigen Menschen zu behandeln, wäre mir im Traum nicht eingefallen, denn das wäre grausam gewesen. Die Entscheidung, die ich treffen musste, war also:
Ist vollwertige Menschlichkeit Voraussetzung dafür, dass ich das Glück eine Lebewesens befördere? Für mich nicht. Für mich ist das Arroganz, die ich nicht in meinem Leben haben will.
Dein Artikel bringt es wunderbar auf den Punkt.
Danke
Was ist denn mit den Menschen, die nur eine körperliche Behinderung haben? Wenn jemand nicht laufen kann, wäre das ein Argument dafür, seine Gedanken und Schlussfolgerungen nicht genauso ernst zu nehmen, wie bei jemandem, der laufen kann? :-)
Im Grunde will ich aber garnicht widersprechen. Sehr gut gefällt mir die Feststellung, dass das Mensch-sein ein erhabener Status zu sein scheint, womit dann ein nicht-menschlich-sein gleich als Herabwürdigung betrachtet wird. Wenn man davon ausgeht, dass Mensch-sein erstmal nur auf einer bestimmten genetischen Zusammensetzung basiert, ist es merkwürdig, aus diesem Zustand, der weder beeinflusst und für oder gegen den man sich nicht entscheiden kann, eine gehobene Position abzuleiten. Hier werden doch Gegebenheiten gewertet und in etwas Positives “umgedacht”. Und auf einmal ist man stolz auf etwas, was nicht in eigener Beeinflussungsmöglichkeit liegt. Ein offensichtlich sehr abstrakter Stolz. Hinzu kommt diesem Gedanken, dass man in dieser “gehobenen” Position automatisch auch bestimmte Rechte und Pflichten haben soll. Auch diese Festlegung ist sonderbar, denn es fehlt doch an einem notwendigen Zusammenhang, oder? Wer legt die Rechte und Pflichten fest? Welche sollen das sein? Wenn nun jemand einem anderen die “Menschlichkeit” abspricht, wird das als (moralischer) Affront betrachtet, weil damit die grundsätzliche Möglichkeit vor Augen geführt wird, daß jedem die Menschlichkeit (und damit die gehobene Stellung) aberkannt werden kann, je nachdem, wie Menschlichkeit definiert wird. Wenn ich deine Definition richtig verstehe (für Menschlichkeit ist es notwendig, sinnvoll einsichtig sein zu können), ist dagegen nichts zu sagen. Es ist eben eine Definition, aufgrund derer du zu stringenten Ergebnissen kommst. Ich sehe nur die daraus folgende Konsequenz nicht. Nimmst du diese Leute nicht ernst? Diskutierst du nicht mit ihnen? Unterstellst du ihnen allen diese Def. nicht, wenn du einen öffentlichen Blog schreibst, der eine Anleitung zum guten Leben bieten soll?
Der Gedanke, dass Entmenschlichung die Möglichkeit der eigenen Abwertung verdeutlicht, finde ich gut. Passt auch zu dem, was ich wahrnehme: Grundsätzlicher Ichbezug. Wenn man dem gegenüber die Vernunft abspricht, wird man zum Beispiel nicht argumentativ vorgehen sondern affektiv. Anstatt, dass ich dem gegenüber von einer möglichen Gefährlichkeit einer Handlung berichte und es ihm darlege, mache ich ihm einfach Angst. Einsicht ist ja nicht die Garantie bereits einen Status Quo zu haben. Man kann einsichtsvoll und trotzdem widersprüchliche Ansichten haben. Nur sollte man diese Widersprüche einsehen, wenn man darauf hingewiesen wird. (siehe moralische Störung) Ich unterstelle jedem, der sich mit diesem Blog auseinandersetzt, dass er sich für vernunftbegabt hält. Ich bemesse die Menschen nach ihrem eigenen Anspruch an sich selbst.