Der moderne Versuch der Psychologie läuft darauf hinaus, dass sie in möglichst wertfreier, empirischer Wissenschaft fundiert ist. Das gilt auch für die Fragen, was gesund und was krank ist.
Solange Psychologie ein rein wissenschaftliches, für die Praxis irrelevantes Fach an der Universität sein soll, macht dieses Unterfangen Sinn. Doch bereits am empirisch-wissenschaftlichen Anspruch der Beschäftigung mit psychischer Krankheit und Gesundheit können wir das Problem erkennen. Krankheit und Gesundheit sind normative Zustände. Das gilt auch für Teilaspekte:
- Ist es gesund einen Armbruch zu riskieren, um das Leben eines Menschen zu retten? Ja, weil das Leben mehr wert ist als die Integrität eines Arms.
- Ist Trauer eine gute Reaktion auf den Verlust eines Liebenden? Ja, weil Trauer ein Maß dafür ist, wie stark die Liebe war. Wir werten diese Form höher als die Vermeidung von Leiden.
- Ist es gesund, sich selbst zu belasten, um andere zu schützen? Ja, weil wir Altruismus höher bewerten als Egoismus.
All das können wir nur sagen, weil wir eine unwissenschaftliche Werturteil fällen.
Es gibt keine empirisch-wissenschaftlichen Normen. Genau genommen sind Normen jenseits aller Wissenschaft. Wissenschaft sucht nach der Antwort “Was ist der Fall?” Normen sind dagegen die Antwort auf die Frage “Was soll sein?”. Auf die Frage nach dem Sein können wir nicht mit Normen antworten und auf die Frage nach dem Sollen können wir nicht mit dem antworten, was der Fall ist.
Alle Beschäftigung mit Normen kann sich vielleicht der wissenschaftlichen Methode bedienen, kommt aber sehr schnell zu Glaubensbekenntnissen — zumindest, wenn wir ehrlich mit dieser Frage umgehen.
Wenn die empirisch-wissenschaftliche Psychologie uns bei Entscheidungen helfen soll, kann sie nur Teil einer übergeordneten, unwissenschaftlichen Disziplin sein. Der andere Teil dieser überordneten Disziplin muss sich dem reinen Sollen widmen. Er beginnt mit Ethik und endet in Religion. Ethik ist der Wissenschaft noch recht nahe. Sie ist konkret und analytisch. Doch je tiefer wir nach dem Sollen graben, desto impliziter und metaphorischer werden Methoden und gewonnenes Wissen. Wissenschaft kann keine Axiome setzen, weil sie Akte des Glaubens sind.
So können wir die Kritik an Maslow, er betreibe unwissenschaftliche Psychologie verstehen und akzeptieren. Doch gleichzeitig können wir sie abweisen, denn Maslows positive Psychologie ist ein erster Versuch sich dieser übergeordneten Disziplin zu nähern. Seine Theorien basieren nicht auf einer empirischen Beobachtung, sondern auf einem Werturteil: Das Ziel des Menschen ist die Selbstverwirklichung. Und wenn dies nicht so ist, dann zählt dies als krank. Daher besteht der Anfang seiner Theorie darin, selbstverwirklichte Menschen zu erkennen und gerade keine für alle Menschen generalisierte Theorie zu entwerfen.