Hari benutzt einen Begriff namens Pain-Porn.1 In Büchern über Depression oder Angststörungen beschreiben Autoren ihren Zustand in einer immer überhöhterer Sprache. Dahinter scheint der Versuch zu stecken, einem Nichterkrankten deutlich zu machen, was es eigentlich heißt, wenn man solche Empfindungen hat.
Doch warum diese Leidenspornographie? Warum reicht es nicht aus, die Empfindung neutral und nüchtern zu beschreiben? Vielleicht spiegelt sich darin der Wunsch danach wieder verstanden zu werden. Nicht die akurate Beschreibung der Empfindungen, sondern Mitgefühl sind Ziel dieser Leidenspornographie.
Das Problem dabei ist, dass wir an dieser Stelle keine gute Unterscheidung von Schmerz und Leiden treffen können. Alle Menschen haben schmerzliche Ereignisse, doch nicht alle Menschen leiden am Schmerz. Es ist eben eine Pornographie des Leidens nicht: Pornographie des Schmerzes.
Dadurch scheint sich ein seltsames Darstellungsproblem zu ergeben: Suhlt sich jemand im Schmerz können wir ihm Verantwortung zusprechen. Wir sagen ihm, er solle damit aufhören und sein Leiden wird damit beendet sein. Als nichtleidende Menschen wissen wir, dass man nicht zu leiden braucht. Wir sehen einen leidenden Menschen mit der emotionalen Distanz, die wir selbst zum Schmerz haben. Unser Rat: Nimm Abstand von deinem Schmerz. Je größer der Abstand, desto geringer das Leiden. Dafür muss man kein Buddhist sein, um das zu verstehen. Dieses Wissen ist tief in uns angelegt. Wir brauchen es nur zu spüren und unser Gefühl ernstnehmen.
Doch wenn jemand auf seinem Leiden besteht, dem Nichtleidenden vorwirft nicht zu verstehen, muss er dem Nichtleidenden eine Art Anleitung dafür geben, wie man leidet. Leidenspornographie soll das Wie des beim Schmerz-Stehenbleibens erklären.
So können wir Leidenpornographie als ein Ergebnis verschiedener Aspekte verstehen:
- Ziel ist nicht die akurate Darstellung eines Phänomens. Vielmehr ist es der Versuch Mitgefühl zu erzeugen. Nicht die objektive Darstellung, sondern die subjektive Nähe zu einem Menschen, der sich selbst nicht mehr anders als Objekt von Schmerz sehen kann.
- Es ist eine Darlegung von Leiden und nicht von Schmerz.
Die Frage ist, ob Mitgefühl wirklich die Komponente ist, die fehlt, um Leiden zu beenden. Natürlich ist Mitgefühl wichtig, denn erst Mitgefühl ermöglicht uns, einem Leidenden mit der nötigen Würde gegenüberzutreten. Doch zu viel Mitgefühl versucht uns, die Opferhaltung des Leidenden zu akzeptieren. Mitgefühl hat viel mit dem beschützenden Instinkt zu tun, den wir gegenüber Kindern haben. Wenn das geschieht, dann müssen wir den Leidenden infantilisieren. Da ist natürlich auch das gemeinsam erklärte Ziel von Leidendem und Mitfühlendem. Der Leidende will sagen: Ich bin krank! Das heißt nichts anderes als “Ich habe kein Verantwortung und bin Opfer höherer Mächte.” Der Mitfühlende bestätigt ihn: Ja, du kannst nichts dafür. Deswegen kümmere ich mich um dich.
Was ist, wenn gerade die Selbstdegradierung zum Opfer eine der wichtigen stabilisierenden Faktoren für das Leiden ist? Eine von Mitgefühl geleitete Hilfe könnte in dem Fall zu einer kurzfristigen Erleichterung führen. Schließlich ist es eine Form von Nähe zu anderen Menschen. Das ist ein Weg, um sich besser zu fühlen. Doch nun erlernt man, dass die Selbstobjektivierung als Opfer, als Leidender, ein Mittel zu Erleichterung ist. Es ist der Versuch kurzfristig angelegte Mittel für langfristige Probleme zu verwenden. Der Leidende wird süchtig.[[201801241301]] Sein Leidensverhältnis zum Schmerz vertieft sich.
Wenn diese Überlegungen korrekt sind, sollte die die Auflösung der Selbstdegradierung zum Opfer eines der obersten Ziele sein, um das Leiden aufzulösen.
Hast du aber einen leidenden Freund, so sei seinem Leiden eine Ruhestätte, doch gleichsam ein hartes Bett, ein Feldbett: so wirst du ihm am besten nützen. – Nietzsche
Vielleicht brauchen Leidende mehr Härte und nicht weniger? Wenn das Leben Leiden ist, wie die Buddhisten glauben, ist vielleicht die höchste Härte, die wir ertragen können, gleichzeitig mit dem geringsten Leiden verknüpft?
Vielleicht ist ein Aspekt der bedingungslosen Verantwortung die bedingungslose Verpflichtung zur bestmöglichen (nicht höchstmöglichen!) Härte für (nicht gegen!) sich selbst?
Das korrekte Mittel gegen Leiden ist nicht das Mitgefühl. Es ist die Balance aus Mitgefühl und Gnadenlosigkeit. So viel Mitgefühl wie nötig und so viel Gnadenlosigkeit wie möglich.
Dabei müssen wir uns mit Skin in the Game schützen! Gnadenlosigkeit für andere andere ohne Skin in the Game wird allzu schnell zu Grausamkeit — Gnadenlosigkeit gegen andere. Mitgefühl zu sich selbst, schnell zu Selbstmitleid.
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Johann Hari (2018): Lost Connections. Uncovering the Real Causes of Depression and the Unexpected Solutions, Croydon: Bloomsbury. ↩