“Mit so wenig Worten wie möglich”, begann er, “sagt Spencer etwa folgendes: Zunächst muß ein Mensch zu seinem eigenen Besten handeln — das ist moralisch und gut. Dann muß er zum Besten seiner Kinder handeln. Und drittens zum Besten seiner Familie.”
“Und die höchste, vornehmste und einzig richtige Handlungsweise”, warf ich ein, “ist die, die gleichzeitig ihm selbst, seinen Kindern und seiner ganzen Familie frommt.”
“Das unterschreibe ich nicht ganz”, erwiderte er. “Ich kann weder die Notwendigkeit noch die Vernunft davon einsehen. Ich nehme Familie und Kinder aus. Für sie würde ich nichts opfern. Das ist nichts als Gefühlsduselei, wenigstens für einen Mann, der nicht an ein ewiges Leben glaubt. Gäbe es Unsterblichkeit, so wäre Altruismus ein Geschäft, das sich bezahlt machte. Dann könnte sich miene Seele vielleicht zu den höchsten Höhen aufschwingen. Aber ohne Aussicht auf etwas anderes Ewiges als den Tod und nur die kleine Spanne dieses Leben genannten Gärungsprozesses vor mir, würde mir eine Handlung, die mir ein Opfer auferlegt, unmoralisch erscheinen. JEdes Opfer, durch das ich auch nur das Geringste dieses Gärungsprozesses verlöre, wäre eine Torheit, ja nicht nur Torheit, sondern ein Unrecht gegen mich selbst und daher etwas Schlechtes.”
“Dann sind Sie ein reiner Ichmensch. Und”, fuhr ich fort, “dazu sind Sie ein Mann, dem man alles zutrauen kann, sobald man seinem Eigennutz in die Quere kommt.”
“Jetzt fangen sie an zu begreifen”, sagte er lebhaft.
“Sie sind ein Mensch, völlig bar alles dessen, was man Moral nennt.”
“Stimmt.”
“Ein Mensch, den man immer fürchten muss…”
“Richtig.”
“Wie man eine Schlange, einen Tiger oder einen Hai fürchtet.”
“Jetzt kennen Sie mich. Und Sie kennen mich so, wie ich allgemein bekannt bin. Andere nennen mich ‘Wolf’.”
Moral kann nicht ohne einen Glauben begründet werden. Erst ein Glaube, beendet den infiniten Regress und gibt einem die Freiheit, eine gelebte, praktische, lebendige und praktizierte Moral zu bilden.
Moralischer Verfall. Nietzsche hat ihn gesehen, Dostojewski hat ihn gesehen.
Aus: Jack London (1991): Der Seewolf, Stuttgart: Das Beste. S. 76/77.