Der Unterschied zwischen großen Religionen und kleinen Mythologien ist, dass die großen Mythologien stärker abstrahieren. Sie bringen die Archetypen auf eine große Allgemeinheit, während die kleinen Mythologien deutlich näher am Alltag sind. Außerdem überhöhen die großen Religionen die Archetypen wesentlich stärker.
Die nordischen Mythen sind ein hervorragendes Beispiel für eine kleine Mythologie. Missverstehen wir die nordischen Mythen und situieren wir sie in den Kontext ihrer Zeit, können wir genauso gut behaupten, dass der Glaube an Odin und Thor auf die gleiche Weise Glaube ist, wie der Glaube an JHWH es ist.
Doch wir begehen eine Äquivokation, einen Fehlschluss der Doppeldeutigkeit. Verschiedene Religionen haben nicht nur ein anderes Selbstverständnis von sich als Religion. Ihr Wesen ist so unterschiedlich, dass der Religionsbegriff nur in äußerster Allgemeinheit verwendet werden kann. Es ist so, als gäben wir uns mit einer Unterscheidung von Tier, Pflanze und Pilz zufrieden, wenn wir biologische Forschung betreiben. Wir verschließen uns vor dem Wesen von Flechten (Symbiose aus Pilz und Pflanze) und glauben, dass ein Hirsch auf die gleiche Weise ein Tier ist wie ein Meeresschwamm.
Die großen Religionen sind unglaublich komplexe und anspruchsvolle Abstraktionsleistungen kultureller Kollektiver, die sich über viele Tausend Jahre vollzogen haben.
Die kleinen Mythologien sind näher am Alltag von uns Menschen. In ihnen sind kluge Lebensweisheiten. Daher wirken die Protagonisten der nordischen Mythen so menschlich: Ihre Geschichten demonstrieren Probleme, gute und schlechte Lösungen für Alltagsprobleme. Deswegen enthalten Märchen zu einem großen Teil Bauernweisheiten. Große Religionen reichern diese Fragen zu abstrakten und schwierigen Fragen auf einer einfachen Voraussetzung an: Gibt es eine übergeordnete Frage, die wir stellen können, sodass sowohl die Alltagsfragen als auch die Sinnfragen gleichermaßen Recht getan ist?
Und natürlich gibt es auch Mischformen. Platon stellt sich die Frage des Demiurgen, einem göttlichen Urschöpfer. Die nordischen Mythen haben einen Schöpfungsmythos, der sich der gleichen Elemente bedient, wie alle funktionierenden (weitererzählten) Schöpfungsmythen: Chaos und Ordnung. (Übrigens auch die Grundfrage des modernsten Schöpfungsmythos: Die physikalische Theorie des Urknalls).
Aber wir finden auch einfache Alltagsgeschichten von Jesus und Buddha.