Meisterschaft ist ein besonders hoher Fertigkeitsgrad. Jemand ist ein meisterhafter Bogenschütze, wenn er den Pfeil eines anderen mit einem Schuss spalten kann.
Ido Portal spricht von drei Stufen der Übung, wobei Improvisation die Höchste ist:
Die erste Stufe ist Isolation. Das heißt, dass man einen bestimmten Teilaspekt herausnimmt und diesen übt.
Ein Boxer könnte zum Beispiel ein isoliertes Rumpftraining absolvieren, um seine Rumpfstabilität zu verbessern.
Ein Klarinettist dagegen könnte sein Lungenvolumen durch Atemtechniken vergrößern, so dass er die Intervalle zwischen den Atemzügen vergrößern kann.
In der zweiten Stufe, der Integration, fügt man die neugewonnene Teilfertigkeit in sein bereits vorhandenes Repertoire ein.
Ein Boxer übt dann vielleicht Kombinationen, die er durch seine verbesserte Stabilität der Wirbelsäule schneller ausführen kann. Er macht sich mit seinem neuen Repertoire vertraut.
Ein Klarinettist überdenkt und übt bereits gelernte Stücke und wägt neu ab, an welcher Stelle er Atmen muss, wie er sein Spiel verändern kann, wenn er auf die neue Ressource zurückgreifen kann.
Die letzte Stufe, die Improvisation, bedeutet, dass man sich nun von Moment zu Moment treiben lässt und seine Handlungen durch die Vorhergehende bestimmten lässt. Zu improvisieren bedeutet spontan von Handlung zu Handlung zu gleiten.
Ist Improvisation wirklich die höchste Stufe der Praxis?*
Ido Portal ist davon überzeugt. Er sagt:
Improvisation ist die höchste Form des Lebens. […] Sie wird auch als “The Zone” oder “The Tunnel” bezeichnet. Du erlebst diese Sache, leer zu sein, die Dinge durch dich geschehen zu lassen. Wie Bruce Lee sagt: Ich schlage nicht, es schlägt. Es passiert einfach.
Ein anderer Begriff für dieses Empfindung ist der Flow, wie ihn der Psychologie Csikszentmihalyi geprägt hat. Es ist das vergessen der Zeit in der Tätigkeit und dem völligen Aufgehen in der eigenen Handlungen.
Wenn wir davon ausgehen, dass The Zone das gleiche Phänomen meint wie der Flow, und Ido Portal so verstehen, als wäre der Flow der höchste mentale Zustand, der ausschließlich mit der höchsten Ausführung seiner Profession einhergeht, ist Ido Portals Aussage falsch.
Er identifiziert den Flow mit der Empfindung mit Improvisation. Um Ido Portal zu widerlegen, brauchen wir ein Beispiel, in welchem wir einen Flow-Zustand erreichen können, aber nicht improvisieren.
Ein einfaches und zugleich wichtiges Beispiel ist die Meditation. Gerade wiederholende Tätigkeiten wie das Wiederholen von Mantras und die reine Konzentration auf den Atem dienen dazu, dich in einem mentalen Zustand zu versetzen, den Ido Portal für die Improvisation reserviert hat.
Wenn auch ein einfaches Langlauftraining nicht die Spontanität einer Ballett-Improvisation hat, bietet es nichtsdestotrotz eine Eintrittspforte zum Flow. Passionierte Läufer werden dieses Gefühl von Leere und dem Aufgehen in der Tätigkeit sofort bestätigen können.
Welchen Wert hat Improvisation dann für die Meisterschaft und die damit verbundene Übung?
Es ist ein internes Kriterium. Das heißt, dass der Zustand der Improvisation keine Verpflichtung ist, die aus der Vervollkommnung erwächst.
Ist ein Ballett-Tänzer vollkommener als ein Radfahrer? Ist ein Jazz-Musiker vollkommener als ein Taktangeber im Ruderboot?
Sicherlich ist ein Ballett-Tänzer vom Standpunkt der Bewegungskomplexität besser als ein Marathonläufer. Auch ein Jazz-Musiker dringt sicherlich tiefer in die Welt der Musik ein als der Taktgeber eines Ruderboots. Doch reden wir hier von der Meisterschaft einer Fertigkeit. Vervollkommnung ist etwas anderes.
An diesem Beispiel sehen wir deutlich den Unterschied zwischen Meisterschaft und Vervollkommnung.
Die Meisterschaft einer Person kann nur vor dem Hintergrund einer fachinternen Skala bewertet werden. Ein Ballett-Tänzer mag sich allgemein besser bewegen können als ein Marathonläufer, aber man kann nicht abschließend sagen, ob dies nun wertvoll ist.
Ein Ballett-Tänzer ist sicherlich ein Meister der Bewegung, während ein Radfahrer, wenn er nichts anderes macht, sicherlich weniger kompetent in Bewegung überhaupt ist. Doch ein Radfahrer hat sicherlich eine höhere Ausdauer. Je nachdem, welches Kriterium hier angelegt wird, stellt sich die Bewertung dar.
Vervollkommnung ist dagegen der moralische Imperativ, der sich aus dem Wunsch ergibt, sein Leben mit Sinn zu erfüllen. Jemand ist vollkommener, wenn er den Sinn seines persönlichen Weges deutlicher erkennt und ihm treuer bleibt.
Weil Vervollkommnung des Weiteren ein Prozessbegriff ist, kann man die Meisterschaft eines Menschen nicht als Maß für seine Vollkommenheit wählen.
Selbst, wenn wir annehmen, dass zwei Menschen die gleiche Meisterschaft anstreben, der eine aber deutlich fortgeschrittener ist als der andere, können wir nicht sagen, dass der eine der vollkommenere ist.
Ein Anfänger, der seinen Weg erkannt hat und ein Vehikel benutzt, um sich selbst zur Entfaltung zu bringen, ist vollkommener als ein Naturtalent, das in Sinnlosigkeit seines Lebens ertrinkt.
Der schlechteste Läufer kann so vollkommener sein als der beste Ballett-Tänzer.
Das ist der Unterschied zwischen Meisterschaft und Vollkommenheit.