Nietzsche ist eher ein Prophet als ein Philosoph. Wenn Prophetie die Botschaft Gottes ist und wir Gott als unseren Adressaten verstehen, wenn wir die Welt als Ganzes verstehen wollen, ist dies das Programm von Nietzsche.
Mit seinem Werk “Genealogie der Moral” versucht er nicht mehr wie Philosophen eine Moral mit moralischem Wahrheitsanspruch zu begründen. Vielmehr vollzieht er einen Akt der Demut, indem er lediglich zu beschreiben versucht, wie Moral tatsächlich zu Stande kommt.
Ob wir Nietzsche als Propheten und nicht als Philosophen verstehen, hängt von zwei Voraussetzungen ab:
- Gibt es etwas oder jemanden, das oder der sich mitteilt?
- Ist Nietzsche tatsächlich ein Bote?
Ich plädiere dafür. Nietzsche akzeptiert, dass das Christentum nicht mehr die Sprache der Menschen ist. Er sucht nach einer anderen Sprache. Das, was er beschreibt, ist die Konsequenz daraus, dass die Voraussetzungen des Christentums nicht mehr selbstverständlich sind. Während die christlichen Propheten Boten einer sich ordnenden Welt sind, Boten von Gottes Schöpfung, ist Nietzsche der Prophet des Chaos. Nicht sein Befürworter, sondern ein Mensch, der das Chaos kommen sieht und versucht das Beste daraus zu machen.
Kommentar: Der Begriff Prophet steht momentan immer noch eng in Beziehung zum Zerrbild, dass wir als moderne Menschen vom Christentum haben. Versteht man Religion und Glauben als nützliche (oder schädliche) Spinnerei, damit wir Menschen unseren Umgang mit der Realität verändern, ist diese Position nicht verstehbar. In dem Fall wäre Ablehnung dogmatisch und nicht argumentativ. Wir befinden uns hier in einer Mischwelt des metaphorisch-symbolischen und des realistisch-materialistischem. Für ein Verständnis braucht es Einsichten in die symbolische Natur des Seins, anstelle des Glaubens an das moderne Dogma des Materialismus. Doch hat man dies zur Verfügung, kann man selbstverständlich anderer Meinung sein. Dann aber rational und nicht dogmatisch.