Zeit ist eine metaphysische Voraussetzung für Sinn. Ohne eine Zukunft, ohne eine klare Zeitstruktur zerfällt die Lebenswelt. Die Wiederherstellung der Zeit können wir durch eine Ausrichtung auf die Zukunft erreichen.
Eine der wichtigen Sinntechniken ist daher die beständige Pflege einer Vision für die eigene Zukunft, einer Vorstellung vom Zweck.
In der Praxis sind die Zeitform von Sinn und die Zweckform eng miteinander verknüpft. Ein Zweck liegt zeitlich gesehen nach seinem Mittel. Das Mittel ist die Ursache für den Zweck. Setzen wir uns Zwecke generieren wir etwas, das in der Zukunft liegt. Unsere Zukunft ist kein leerer Raum mehr. Sie ist nun kein Ginnungagap, kein gähnender Abgrund, der uns zu verschlingen droht wie ein Ungeheuer.
Das ist, was eine leere Zukunft ist. Ein langsam, unaufhaltsam auf uns zurollendes Chaos, ein Ungeheuer mit unendlich großem Schlund. Gnadenlose Kiefer die zusammenschlagen, wenn wir vollends in sein Maul geraten sind. Das ist es, was uns Angst macht. Das ist die tief in uns sitzende Furcht, die in uns allmählich als Unbehagen der Moderne auftaucht und sich immer schlechter verdrängen lässt.
Schaffen wir jedoch einen Zweck knüpfen wir ein Seil über diesen Abgrund. Die Zwecke, die wir uns setzen sind die Anker, an denen wir Seile spannen. Und nun können wir balancieren. Das Ungeheuer, der gähnende Schlund ist nun unter uns. Nur weil wir uns Zwecke gesetzt haben, ist das Ungeheuer nicht verschwunden. Das Leben ist nicht leichter und wir haben auch nicht weniger Angst. Wir müssen lernen auf schmalen Grat zu wandern. Wir müssen unsere Sinne schärfen, müssen uns verbieten in den halbbewussten Dämmerschlaf zu versinken. Sonst fallen wir. Das Leben ist nicht leichter. Doch nun können wir das Leben bewältigen. Es gibt einen Weg, ein Seil, dass uns über den Abgrund tragen kann. Wir können es schaffen, den Abgrund zu überwinden.
Haben wir das akzeptiert, haben wir den ersten Schritt gemacht. Haben wir anfangs noch ungeschickte Versuche gemacht, uns überhaupt auf dem Seil zu halten, verwandeln wir uns mit jedem Schritt in virtuose Seiltänzer. Wir sind mit der Angst vertraut, doch nun können wir durch das Leben tanzen. Wir werden fröhlich. Damit haben wir den ersten Schritt gemacht, um am großen Sinn teilzuhaben. Wir sind keine Fallenden, keine Stolperer, keine hilflose Beute der Leere.
Doch was ist, wenn wir nicht über das Seil steigen? Was ist, wenn wir beginnen uns gegen das Ungeheuer stellen, dass im Abgrund wartet? Was ist, wenn wir das Tanzen zum Kämpfen wandeln? Was ist, wenn wir das Ungeheuer selbst besiegen? Dann brauchen wir kein Seil mehr zu spannen.
Doch in ewiger Wiederkehr wird ein nächstes Ungeheuer kommen. Es ist die Zukunft selbst, die uns immer wieder als diese gähnende Leere begegnet. Und so müssen wir entscheiden, wie wir dem Leben begegnen.
Sind wir Nihilisten? Dann gibt es keine Zwecke. Es gibt kein Seil und wir werden verschlungen.
Sind wir Hedonisten? Wir glauben zwar an keine höheren Zwecke, doch Lüste können ein Versprechen der Zukunft sein. Wir spannen Seile, stolpern nur so über den Abgrund, leben in dauernder Sorge und fluchen auf das Seil, fluchen darüber, dass wir über das Seil müssen, um an den Ort zu kommen, von dem wir glauben, dass er der einzige Ort ist, den es geben kann. Wir können leicht sehen, dass warum Hedonisten nicht fröhlich sind. Sobald wir den Abgrund überwunden haben, tut sich schon der nächste auf. Sind wir angekommen, haben wir den Zweck erreicht. Das Seil verschwindet und ohne Seil schiebt sich die Leere, das Ungeheuer wieder vor uns. Das Leben eines Hedonisten ist ein ewiges Stolpern, ein winziges Aufflackern von Erleichterung im Ankommen, ein Schrecken, wenn wir wieder Leere vor uns sehen, und Missmut, wenn wir ein neues Seil spannen müssen.
Sind wir Seiltänzer? Wir sehen die Notwendigkeit von Sinn an. Wir werfen unsere Seile aus, weil wir das Tanzen selbst als notwendigen Bestandteil des Lebens nicht nur akzeptieren, sondern ihn gutheißen. Ein Tänzer ist dann fröhlich, wenn er tanzt. Pause macht er nur, um zu verschnaufen. Die Pause dient dem Tanzen. Wir sind keine Hedonisten. Es gibt kein Stolpern, dass der kurzen Pause dient. Wir haben eingesehen, dass die Natur des Lebens selbst auf dem Seil liegt. Sieht der Hedonist sein Glück im Auflackern, kann er es nur in kurzen Augenblicken erleben. Doch wir sind nun Tänzer. Unser Glück finden wir im Tanz auf dem Seil. Deswegen sind die Tänzer von uns so fröhlich.
Sind wir Jäger? Dann gehen wir in den Abgrund und stellen das Ungeheuer. Wir riskieren unser Leben, um das Ungeheuer ein für alle mal zu erlegen. Der Seiltänzer ist schön anzuschauen. Das Leben sieht an ihm so leicht aus. Der Jäger aber, er kann sich Schönheit und Leichtigkeit nicht erlauben. Er kann keine Rücksicht darauf nehmen, denn seine Augen sind fest auf das Ungeheuer vor ihn gerichtet.
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. (KSA JGB, ??)
Ein Jäger kann ein Held sein oder als Ungeheuer zurückkehren.